Sind Neurodivergenz und Neurodiversität das Gleiche? Wir sehen immer noch in den Medien, dass diese Begriffe von einigen gleichbedeutend verwendet werden, was aber nicht der ursprünglichen Bedeutung entspricht. Daher soll dieser Artikel aufklären: Was ist Neurodivergenz im Unterschied zur Neurodiversität?
Definitionen von Neurodiversität und Neurodivergenz
Im Folgenden nehme ich eine Definition auf die beiden sich überschneidenden Konzepte Neurodiversität und Neurodivergenz vor.
Was ist Neurodiversität?
Jedes Gehirn arbeitet auf seine eigene und individuelle Art und Weise, was bedeutet, dass wir alle einzigartig sind. Ein anderer Begriff für diese Unverwechselbarkeit ist Diversität. Wenn diese mit dem Gehirn im Zusammenhang steht, nennen wir sie Neurodiversität. Die Essenz an dieser Betrachtung ist, dass sämtliche individuelle Unterschiede in der Gehirnfunktion normal und wertvoll sind.
Entsprechen die Gehirnfunktionen unseren normierten Vorstellungen, sprechen wir von einem neurotypischen Gehirn. Weichen diese davon ab, sprechen wir von einem neurodivergenten Gehirn. Beides nimmt einen gleichwertigen Platz in der Neurodiversität ein.
Was ist Neurodivergenz?
Ein Teil der Neurodiversität ist die Neurodivergenz. Neurodivergente Gehirne funktionieren anders, damit weichen diese Menschen von der neurotypischen Norm ab. Bei der Neurodivergenz Hochbegabung ist beispielsweise die normabweichende Zusammensetzung des Gehirns in Studien belegt worden. Neurodivergenz wird als ein Merkmal einer Person betrachtet. Manchmal ist eine medizinische Diagnose zuordnungsbar, aber nicht immer.
Es ist bis heute nicht klar definiert, wie viele Menschen neurodivergent sind. Schätzungen zufolge betrifft dies etwa 10-20 % der Bevölkerung. Zu beachten ist, dass die Dunkelziffer, also Menschen ohne eindeutige Diagnose, hoch ist. Dazu kommt, dass Neurodivergenz kein medizinischer Begriff ist, sondern eine gesellschaftliche Sichtweise.
Das Konzept der Neurodivergenz stammt aus den 1990er Jahren. Er wurde von der Autismus-Community federführend von Judy Singer eingeführt. Wesentlich bei diesem Konzept ist der positive Blick auf die Unterschiede. Judy Singer betrachtet die individuellen Ausprägungen als natürliche Variationen und nicht als Krankheiten.

Was zählt zur Neurodivergenz?
Es gibt einige neurologische Ausprägungen, die in der Liste der psychischen und Verhaltensstörungen nach ICD-10 auftauchen und klinisch diagnostiziert werden können. Andere Neurodivergenzen gelten nicht als Krankheit oder Störung.
Klinisch diagnostizierbare Neurodivergenzen:
- Autismus-Spektrum-Störung (ASS), ICD-11: „Autismus-Spektrum-Störung“, Diagnose durch Verhaltensbeobachtung, Entwicklungsanamnese und Tests.
- ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), ICD-11: „Hyperkinetische Störung“, diagnostisch basierend auf Symptomen von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.
- Dyslexie (Lese-Rechtschreib-Störung / LRS), ICD-11: „Lese- und Rechtschreibstörung“, Diagnostik durch standardisierte Tests von Lese- und Rechtschreibfähigkeiten.
- Dyskalkulie (Rechenstörung), ICD-11: „Rechenstörung“, standardisierte Tests für mathematische Fähigkeiten werden genutzt.
- Tourette-Syndrom / Tic-Störungen, ICD-11: „Tourette-Syndrom“, Diagnose erfolgt durch Beobachtung und Verlauf der Tics über mindestens ein Jahr.
- Dyspraxie (Entwicklungskoordinationsstörung, DCD), ICD-11: „Entwicklungsstörung der motorischen Koordination“, Diagnose durch motorische Tests und Ausschluss anderer Ursachen.
Klinisch nicht-diagnostizierbare Neurodivergenzen:
- Hochbegabung
- Hochsensibilität und Hochsensitivität
Um den Unterschied zwischen Neurodivergenz und Neurodiversität klarer zu machen, empfehle ich das Video von Prof. Dr. André Frank Zimpel. Er hat es auf der re:publica 2024 wunderbar erklärt - hier wurde mir der Unterschied auch noch einmal klarer:
Warum das Konzept der Neurodivergenz so wertvoll ist
Medizinische Modelle legen den Fokus auf die Defizite, also was behandelt werden kann und sollte. Doch neurodivergente Menschen verfügen gleichwohl über zahlreiche Stärken und Fähigkeiten, die sie von den neurotypischen Menschen unterscheiden. Das bedeutet, dass der positive Blick darauf einen wertvollen Gegenentwurf zur Pathologisierung darstellt.
Am Beispiel von ADHS könnte man sagen, dass diese Menschen maßgeblich zum Überleben der Menschheit beigetragen haben. Denn diese Persönlichkeiten arbeiten hyperfokussiert, sind neugierig und wissbegierig und suchen die Herausforderung. Das sind elementare Eigenschaften für Jäger, aber auch für Forscher.
3 Buchtipps zu Neurodivergenzen:
Im Zusammenhang mit ADHS empfehle ich die Lektüre „ADHD – eine andere Art die Welt zu sehen“ von Thom Hartmann, der die Unterschiede am Beispiel von Jägern und Farmern sehr schön verdeutlicht. Das Buch „Orchidee oder Löwenzahn? Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können“ von W. Thomas Boyce und Claudia van den Block ist sehr lesenswert zum Thema Hochsensibilität. Als drittes empfehle ich mein Buch „Hochbegabt gescheitert – und neue Türen öffnen sich“ zum Thema Hochbegabung:

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Alle drei Bücher eröffnen einen neuen Blick auf die Neurodivergenzen und ihre jeweiligen Herausforderungen.
Es kommt auf jeden Einzelnen an
Das eine ist der gesellschaftliche Blick auf die Neurodivergenzen. Es ist wunderbar, wenn die Stärken und Fähigkeiten mit den jeweiligen Ausprägungen im Fokus stehen. Solange sich der neurodivergente Mensch frei entfalten kann, bietet dies für jeden einzelnen großartige Möglichkeiten. Leider gibt es in der Gesellschaft Situationen und Begebenheiten, in denen eine Neurodivergenz zur reinen Herausforderung wird. Denken wir hier an die Strukturen im Bildungssystem oder an berufliche Laufbahnen.
Letztendlich ist es entscheidend, wie jeder Mensch selbst seine Neurodivergenz bewertet und lebt. Wird sie als Bereicherung erlebt oder als Störfaktor? Wie groß ist der Leidensdruck? Ist eine Fokussierung auf die Stärken im Umfeld überhaupt möglich? Diese Fragen darf jeder für sich selbst beantworten und entsprechend Maßnahmen ergreifen.
Klarheit hilft oft bei Neurodivergenzen
Einigen hilft bereits die Klarheit einer Diagnostik, um sich selbst zu erkennen und zu reflektieren sowie einen guten Umgang damit zu finden. Manchmal braucht es darüber hinaus therapeutische Begleitung oder sogar medikamentöse Behandlung, um mit der Neurodivergenz klarzukommen. Die Empfehlungen von Psychologen, Eltern, Therapeuten, Heilpraktikern und vielen mehr gehen dabei oft auseinander.
Daher ist und bleibt der Umgang mit der Neurodivergenz eine individuelle Entscheidung für jeden Einzelnen. Ganz gleich, wie diese ausgeprägt ist, wenn Hilfe benötigt wird, sollte diese gegeben werden. Werden alternative Methoden herangezogen, ist dies ebenfalls zu respektieren.
Ein persönliches Fazit zum Schluss:
Die erste ADHS-Diagnose unseres Sohnes wurde im Jahr 2010 gestellt – 20 Jahre, nachdem das Konzept von Judy Winter publik wurde. Danach folgten viele weitere Diagnosen, unter anderem auch ein Verdachtsfall für eine Autismus Spektrum Störung. Die Hochbegabung wurde 6 Jahre später getestet.
Wir haben bis zu diesem Zeitpunkt und darüber hinaus nichts von dem Konzept der Neurodivergenz gehört oder gelesen. Auch die Lehrkräfte haben uns darauf keinen Hinweis gegeben. Erst kurz vor der Veröffentlichung meines Buchs mit unserer Erfahrungsgeschichte im Jahr 2024 kam ich mit diesem Konzept in Berührung, welches mich gleich ansprach. Daher habe ich es als Extra-Kapitel in mein Buch kurz vor Drucklegung eingefügt.
Neurodivergenz im Schulsystem
Uns hätte der positive Blick auf die Stärken unseres Sohnes seitens des Schulsystems, der Lehrkräfte aber auch der Institutionen geholfen. Dank eigenen Recherchen und Lektüren hatte ich glücklicherweise schon früh begonnen, unseren Sohn mit seinen Potenzialen zu sehen. Das oben erwähnte Buch von Thom Hartmann war dabei ein Gamechanger für mich.
Ich kläre in meiner Arbeit über Hochbegabung auf und beginne immer mehr, das Wort „Neurodivergenz“ in meinen Lesungen und Workshops zu nutzen. Es ist so wichtig für alle neurodivergenten Kinder und Jugendlichen, dass sie in ihrer Vielfalt anerkannt und gesehen werden und ihre Potenziale leben können. Darauf sollte unser Fokus liegen und dazu trage ich gerne mit meinem Workshop-Format bei:

Weiterbildung für Lehrkräfte - Workshops in Schulen mit Susanne Burzel:
Underachievement bei Hochbegabung erkennen und wirksam begegnen
Wie erkennst du Underachievement rechtzeitig? Welche Ursachen stecken dahinter? Und vor allem: Was kannst du als Lehrkraft konkret tun, um betroffene Schülerinnen und Schüler zu fördern und zu begleiten?
Das Angebot ist akkreditiert in der Lehrkräfte-Akademie Hessen.